Goldie und die Nettigkeit

Es war noch früh am Morgen als Goldie an diesem Tag erwachte. Gähnend steckte und reckte er sich. Er fühlte wie die leichte Frühlingsbriese ihm unter die Flügel blies, wie um ihm zuzuflüstern, dass er sich in die Lüfte schwingen soll um die Sonne zu begrüßen. Goldie beachtete dies nicht weiter. Schon seit Wochen war ihm nicht mehr nach fliegen gewesen und wenn er es sich recht überlegte auch nach nichts anderem so wirklich. Noch nicht einmal singen wollte er mehr. Wie schon so oft wandte er sich von der Sonne ab und krabbelte tiefer in die Baumkrone hinein, wo ihn die Sonne nicht erreichen konnte. Hier sank er nieder auf eines der Blätter und versuchte wieder einzuschlafen.

Beinahe wäre ihm das auch gelungen, als er plötzlich Schritte auf sich zukommen hörte und dazu noch dieser ohrenbetäubende Lärm „1 und 2 und 3 und 4, aus dem Weg nun kommen wir! 5 und 6 und 7 und 8, Blätter werden heut nach Haus gebracht! 9 und 10 und 11 und...“ Es waren die Ameisen, die sich Stück für Stück den Baum hinauf kämpften. Sie lebten tief versteckt im Dickicht der Wurzeln und Gräser. Schon öfters hatte der Schmetterling sie beobachtet. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie aus nichts als Erde ein riesiges Bauwerk erschaffen hatten...gemeinsam. Niemals hatte er auch nur eine von ihnen alleine gesehen. Goldie seufzte und stützte seinen Kopf auf den Rand des Blattes um sie weiter zu beobachten. Dieses Mal waren die jungen Ameisen dabei. Sie tollten und tobten am Ende der Karawane herum und ernteten dabei mahnende blicke der Älteren. Doch sogar Goldie konnte sehen, dass diese, sobald sie sich von den kleinen abgewandt hatten, zu schmunzeln begannen. So lag der Schmetterling nun da und beobachtete das bunte Treiben. Wie gerne wäre er nur zu ihnen hinab geflogen und hätte mit ihnen gespielt und gebaut. Doch warum tat er es eigentlich nicht?

Wütend schüttelte Goldie den Kopf. Er wollte nicht darüber nachdenken denn er wollte nicht an seine eigene Kindheit denken. Wieso musste er denn auch Fred heißen. Geschwind krabbelte er zum äußersten Blatt der Baumkrone und schwang sich in die Lüfte um auf andere Gedanken zu kommen. Die Sonne lachte ihm entgegen und die Welt trotzte nur so vor Leben, doch das erfreute ihn nicht. Er sah die Welpen der Füchse wie sie zum ersten Mal die Welt erkundeten und die Spatzen wie sie nach Nistplätzen suchten. Er beobachtete die Welt wie sie langsam zum Leben erwachte und dennoch fühlte sich Goldie, als würde er nicht dazu gehören sondern nur als Zuschauer zu existieren. Bei diesem Gedanken fühlte es sich an als hätte ihn auf einmal sämtliche Kraft verlassen und so ließ er sich fallen. Der Wind peitschte ihm um die Ohren aber Goldie kümmerte dies nicht mehr. Ihn kümmerte es nicht, dass der Boden immer näher kam, denn auch sonst kümmerte es keinen was mit ihm geschah. Er war absolut unsichtbar.

Platsch! Mit diesem Geräusch verschwand der Schmetterling in den Tiefen des Tümpels. Doch er regte sich nicht, versuchte nicht einmal wieder an die Oberfläche zu kommen. Stattdessen gab er sich der Dunkelheit hin und lies sich weiter in die tiefen hinab sinken. Plötzlich fühlte er etwas glitschiges, schleimiges an einem seiner Beine. Er merkte wie es ihn nach oben zog, dem Licht entgegen und schließlich brachen sie durch die Wasseroberfläche. Goldie fühlte die weiche Erde unter sich und spürte wie die Luft in seinen Körper strömte um ihn ins Leben zurück zu holen.

„Was denkst du was du da tust?“, hörte er eine Laute Stimme rufen. „Wolltest dich etwa ertränken oder was? Nicht während ich hier aufpasse!“ Müde hob der goldene Scheckenfalter den Kopf und sah sich nach dem Tier um. Vor ihm saß mit geblähtem Kehlkopf eine Kreuzkröte. Sie beäugte ihn misstrauisch. Nach einer Weile fragte Goldie „Warum hast du mich da raus geholt? Wieso hast du mich nicht dort gelassen?“ Tränen strömten über das Gesicht des Schmetterlings. Die Kreuzkröte schüttelte den Kopf. Sie hatte Mitleid mit dem Falter als er so zusammengerollt dalag, völlig egal wie sehr er sie in der vergangenen Zeit genervt hatte mit all seinem Gesinge und mit seinen Star Allüren. Vorsichtig stupste sie ihn an „Nun erzähl doch erst mal was los ist?“

Da begann es nur so aus dem Schmetterling heraus zu strömen. Er erzählte davon, wie alleine er sich fühlte und das ihm nichts mehr Spaß mache. Er sprach davon, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als Freunde, aber dass er Angst davor hat, dass andere nicht mit ihm befreundet sein wollen. Er redete auch von seiner Kindheit, in welcher er als Fat Fred gehänselt wurde und dass er sein Leben lang einfach nur einmal das Gefühl haben wollte dazu zu gehören, was aber nie geschehen war. Die Kröte seufzte und ließ sich neben den Schmetterling auf den Bauch plumpsen.

„Lass mir dir einmal die Geschichte erzählen, von meinem Ur-Ur-Urgroßonkel Quakobert. Quakobert war ein unangenehmer Geselle. Er war unglaublich eingebildet und schnippisch. Selbst wenn die edelsten Tiere an ihm vorbei kamen, rümpfte er nur die Nase und drehte sich weg. Quakobert hatte immer das Gefühl, dass alle anderen so viel mehr Glück hatten als er, doch in Wirklichkeit hatte er mindestens genau so viel nur die Freunde fehlten ihm. Er jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken. 'Ich brauche keine Freunde', war was er stets zu sagen pflegte.

Das stimmte natürlich nicht. Sehr gerne hätte auch er Freunde gehabt und mit den andern etwas unternommen. Er war nicht ehrlich mit sich selber. Er wollte nur nicht zugeben, dass er alleine ist und nicht alleine sein wollte.

So wurde er immer wütender und verbitterter. Er begann den anderen Tieren wüste Dinge nachzusagen, ohne sich überhaupt darum zu bemühen, dass sie es nicht mitbekamen. So rief er zum Beispiel einmal einem Wildschwein nach 'Du dummes Schwein!‘. Daraufhin war das Wildschwein so traurig und gekränkt, dass es sich in die dunkelsten Ecken des Waldes verzog und nur mit viel gutem Zureden wieder hinaus gelockt werden konnte. Ein andres Mal schrie er einer Ente nach: 'Du lahme Ente!'. Diese brauchte erst mal einige Minuten, um sich nicht mit voller Wut auf ihn zu stürzen. Doch das schlimmste, was er je tat, war einem kleinen Babyschneckchen, welches drohte von seinem Grashalm ins Wasser zu rutschen, seine Hilfe zu verweigern. Sie flehte ihn an ihn zu retten, doch er saß einfach weiterhin am Ufer des Sees und ließ sich von der Sonne den Bauch wärmen. Zum Glück war noch eine Froschdame am See, die die verzweifelte Schnecke rufen hörte und es gerade noch rechtzeitig zu ihr schaffte, um sie aufzufangen. Sicher brachte sie die Kleine ans Ufer bevor sie komplett empört auf Quakobert zu hüpfte.

Sie schrie ihn laut und böse an. 'Was denkst du dir denn dabei mit dem Leben anderer so zu spielen. Du bist wirklich gemein. Jemand gemeineres gibt es bestimmt nirgendwo.' Wütend hüpfte sie davon.

Das gab Quakobert zu denken, denn er hielt wirklich viel von der Froschdame und eigentlich wünschte er sich nichts lieber als ihr Freund zu sein genau wie jedes andere Tier auf der Wiese es war. Mühselig rappelte er sich auf und hüpfte zum Ufer hinüber. Dort schaute er in den Teich und ihm entgegen blickte sein Spiegelbild. 'Was war er nur für ein dummer Kerl! Kein Wunder, dass die anderen nichts mit ihm zu tun haben wollten' dachte er bei sich. Das macht man wirklich nicht. Er wusste es und sein Gewissen lastete schwer auf seinen Schultern. Mit hängendem Kopf machte er sich auf den Weg nach Hause. Überall um ihn herum hörte er das Getuschel der anderen und wenn er sich zu ihnen drehte wandten sie sich ab, flogen davon oder gruben sich einen Gang in die Erde, denn keiner wollte ihn je mehr sehen.

Wie er die Welt um sich herum so beobachtete, wurde ihm auf einen Schlag klar was er zu tun hatte! Ohne zu zögern drehte er sich auf der Stelle um und machte sich auf den Weg zu der Froschdame. So stand er nun vor ihrem Haus und plötzlich wurde ihm bang ums Herz. Was wenn sie ihn nicht einmal anhören wollte. Um ehrlich zu sein konnte er ihr das nicht einmal verübeln, wenn das der Fall sein würde. Dennoch wusste er, das hieran kein Weg vorbei führte und so klopfte er vorsichtig an die Türe. Tatsächlich öffnete sie die Türe und schaute ihn grimmig an.

Quakobert senkte seinen Blick und murmelte „Es tut mir leid“, während er sich ganz auf ein kleines Steinchen am Boden konzentrierte. „Was hast du gesagt?“, quakte die Froschdame nun laut genug, sodass man sie in der ganzen Gegend hören konnte. „Kommt mal alle her. Ich glaube Quakobert hat uns etwas zu sagen.“ Aus allen Ecken kamen die Tiere herbei und bildeten einen Kreis um Quakobert. Er fühlte sich so klein wie noch nie zuvor in seinem Leben. Am liebsten wäre er gerade im Erdboden versunken. Er brachte kein Wort heraus.

Die Froschdame bemerkte dies natürlich und sagte rasch „Quakobert wollte uns etwas sagen, was nur nette Tiere tun.“ Das ermunterte den Kröterich seinen Blick zu heben und laut zu sagen „Es tut mir alles so schrecklich leid!“ Dabei sah er jedem einzelnen Tier in die Augen und hoffte, dass sie verstanden wie ernst er es meinte. Ängstlich kroch die kleine Babyschnecke aus der Menge hervor und als er sie sah, fiel Quakobert auf die Knie  und entschuldigte sich nochmal und nochmal und nochmal. Sogar einige Tränen kullerten ihn aus den Augen. Die Schnecke nickte und kroch vorsichtig zu ihm bevor sie sagte „Ich vergebe dir“. Quakobert lächelte und drückte die Kleine an sich.

Fortan war Quakobert nie wieder alleine. Er war jeden einzelnen Tag mit all seinen Freunden zusammen und dankte der Welt für jeden einzelnen dieser Tage.“ Die Kreuzkröte beendete damit ihre Erzählung und schaute Goldie an. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit wieder aufgerappelt und allmählich trockneten auch seine Flügel wieder. „Verstehst du was ich dir damit sagen will Goldie?“ Lange dachte der Schmetterling nach bevor er langsam nickte. „Gut. Ich will dich nicht noch einmal aus diesem Teich fischen müssen“ Goldie nickte noch einmal bevor er sich abwandte und sich bereit machte abzuheben. Doch im letzten Moment überlegte er es sich noch einmal anders und umarmte die Kröte so fest er nur konnte. „Danke“ flüsterte der Schmetterling leise und flog davon.

Mit jedem weiteren Meter den er zurücklegte fühlte sich der Schmetterling freier und glücklicher. Er spürte die Wärme der Sonne auf seinen Flügeln und die sanfte Brise neckte ihn zum Spielen. Goldie grinste und flog ein paar Saltos. Nun war ihm klar was er tun musste. Er brauchte keine Angst zu haben, davor das die anderen ihn nicht mögen oder dass sie ihn hänseln. Keiner mag es ausgelacht zu werden und das wissen die anderen auch. Es ist einfach nur gemein über andere zu lachen oder ihnen nicht zu helfen. Die anderen wollten nur nichts mit ihm zu tun haben, weil er so eine ungeheure Nervensäge gewesen war und er wusste auch, dass das alleine seine Schuld war. Doch das lässt sich ändern und Goldie wusste auch schon genau wie.

Sein erster Stopp war bei dem Baum der Ameisen. Sie arbeiteten immer noch daran die Blätter, welche sie in der Zwischenzeit abgenommen hatten, in ihren Bau zu schleifen. Deswegen beschloss Goldie ihnen zu helfen. Ein Blatt nach dem anderen schnappte er sich und flog damit bis er direkt über dem Ameisenbau war, wo er sie fallen ließ. Immer und immer wieder tat er dies und schon bald war der Haufen weg. Zunächst waren die Ameisen verwirrt gewesen über das Verhalten des Schmetterlings, weil dieser sich doch bisher nur um seine eigenen Belange gekümmert hatte. Dennoch waren sie glücklich über die unerwartete Hilfe und als Goldie davon flog winkten sie ihm. Einige riefen sogar, dass er sie schon bald mal besuchen kommen solle und Goldie rief freudestrahlend ein 'Gerne' zurück.

Als er weiterflog fiel sein Blick auf die jungen Füchse, welche er heute Morgen bereits gesehen hatte. Sie tollten und tobten in dem hohen Gras herum, nur einer traute sich noch nicht hinaus. Sehnsüchtig beobachtete er die anderen beim Spielen. Goldie überlegte nicht lange und flog hinab zu dem Kleinen. Er schwirrte ihm solange um die Nase bis der Welpe anfing nach ihm zu greifen um ihn zu fangen. Goldie wich der kleinen Pfote immer und immer wieder aus und dabei entfernte er sich immer wieder ein kleines Stückchen vom Bau. Der Kleine war viel zu sehr darauf fixiert den Schmetterling vor seiner Nase zu fangen als dass er dies bemerkte. Irgendwann, als sie ein gutes Stück vom Bau entfernt waren wuschelte Goldie dem Kleinen noch einmal durch das Fell bevor er davon flog. Er sah, wie der Kleine sich verdutzt umsah und erschrak. Doch da kam auch schon das Knäul aus tobenden Welpen angerauscht und schon bald war der kleine Fuchs schon viel zu sehr damit beschäftigt sich mit seinen Geschwistern zu balgen, als dass es ihn störte draußen zu sein.

 Goldie lächelte zunächst nur darüber, doch nach und nach begann er zu lachen. Er lachte so sehr, dass ihm der Bauch weh tat und er landen musste. Es war schon so lange her gewesen dass der Schmetterling so herzhaft gelacht hatte. Glücklicher als er seit langem war, flog er über seine Heimat. Er half den Vögeln Zweige herbei zu schaffen, den Hummeln und Bienen die besten Honig-Stellen zu finden und den kleinen Entenküken sich aus ihren Eiern zu befreien. An diesem Tag erlebte er so viel und lernte so viel Neues und das alles ohne irgendetwas daran für sich selbst zu tun. Erschöpft aber glücklicher als je zu vor kehrte er wieder in sein Heim zurück, wo er schnell mit einem Lachen im Gesicht einschlief.

Die anderen Tiere waren verwirrt über die plötzliche Änderung in Goldies Verhalten und so beschlossen sie eine der großen Tierversammlungen einzuberufen, um zu diskutieren wie sie damit umgehen würden.

„Ich wette mit euch der will etwas von uns“, grummelte der alte Kauz vor sich hin. „Wieso sonst würde er auf einmal anfangen uns zu helfen?“ Viele der Tiere nickten und stimmten ihm zu. „Aber was wenn nicht? Vielleicht ist er ja einfach so nett geworden“, piepste eine kleine Blaumeise, während sie nervös hin und her hüpfte. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Tiere diskutierten die halbe Nacht lang darüber was nun passieren sollte. „Wir werden eine Fete feiern. Ob er sich nun wirklich ändern möchte oder nicht ist doch nun erstmal egal. Feiern wir einfach das hier und jetzt. Außerdem hatten wir schon viel zu lange keine gute Fete mehr!“, meinte irgendwann der alte Dachs und tatsächlich hatte keines der anderen Tiere einen Einwand. Den nächsten Tag verbrachten sie alle mit der Vorbereitung für den kommenden Abend und Goldie würde der Ehrengast werden.

Der Tag ging schneller vorbei al die Tiere schauen konnten und so brach schon bald die Abenddämmerung hinein. Sie saßen alle beisammen auf der Wiese und tratschten und quatschten als Goldie dazu geführt wurde. Der Dachs wollte gerade anfangen eine Rede zu halten da kam die Blaumeise dazwischen und  zwitscherte: „Das ist alles für dich, weil du so nett geworden bist.“ Der Dachs schaute sie böse an. „Tut mir leid Dachs. Ich konnte mich nicht beherrschen“, zwitscherte das kleine Vögelchen und versteckte den Kopf unter seinen Federn. „Für mich? Wirklich?“, fragte Goldie erstaunt und blickte sich um. Alle Tiere waren gekommen. Goldie fehlten die Worte und so war alles was er herausbrachte ein leises 'Dankeschön'. Schon bald waren die Tiere wieder am Reden, Lachen und Scherzen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Goldie oder wie er wieder lieber genannt werden würde Fred, als wäre er ein Teil eines Ganzen, ein Teil in einer Gruppe von Freunden und genau das war es wieso sich Goldie schwor diesen Tag nie wieder zu vergessen, denn es war der glücklichste Tag seines Lebens.